MIDIPRAXISBUCH von Richard Aicher, 1987 – Einleitung

Gedanken im Jahr 2024

Es ist fast 40 Jahre her, dass ich dieses Buch geschrieben habe. In dieser Zeit gab es noch kein Handy wo wie wir das heute kennen, das erste flächendeckende Mobilfunknetz, das D-Netz kam erst Ende der 80erJahre und machte kleinere portable Telefone möglich. Es gab auch noch kein Internet so wie wir das heute kennen. Das www.xxxx.xy kam erst ein paar Jahre später. Es gab nur wenig Informationsmöglichkeiten, kein WhatsUp, kein Google, keine Email. Daten wurden mit einem MODEM über die Telefonleitung übertragen und MIDI war gerade aus der Taufe gehoben worden. Wenn ich heute das Manuskript wieder durchlese, kommt mir manchmal das Schmunzeln, vieles sieht man heute ganz anders als damals.

Vieles würde ich heute anders schreiben, als damals. Aber die Zeiten haben sich eben total geändert….. Trotzdem, einige Gedanken von damals sind heute wieder aktuell nur in anderem Kontext. Der Streit damals ging bei vielen Musikern um MIDI ja oder nein, die Angst, dass MIDI die gesamte Studioszene verändern, sogar kaputt machen könnte. Das erleben wir heute mit Künstlicher Intelligenz. Die Angst und die Freude, die einen glauben die Welt geht jetzt unter an KI, andere freuen sich, dass neue Möglichkeiten auch im grafischen und musikalischen Bereich damit erreichbar sind. Sicher KI wird viel mehr ändern als damals MIDI, hoffen wir, dass es insgesamt zum Guten ist.

Richard Aicher 2024


Und jetzt sind wir im Jahr 1987:


Zur Einstimmung

Computer waren mittlerweile billig geworden. Für knappe dreihundert Mark bekam man bereits einen Bausatz des Sinclair Spectrums. Klar, daß wir in unserer Elektronikband mit diesen Dingern experimentierten. Wir hatten damals die Schränke voll mit diversen Synthesizermodulen, Sequenzern, Verteilern, Oszillographen, Equalizern und all den tausend Elektronikschaltungen, ohne die kein interessanter Elektronikklang zustande kam. Und all dies wurde zentral von zwei kleinen Mikrocomputern gesteuert: einem Commodore 4020 und einem Sinclair ZX81. Ein findiger Ingenieur aus München hatte das Wunder vollbracht: Er hatte in vielen Stunden Kopf- und Lötarbeit die nötige Steuersoftware entwickelt und mit Bergen von Transistoren, Widerständen und sonstigen Bauteilen unsere Analogsynthesizer mit den Computern zu einem funktionierenden System gekoppelt

Bild: „Unser Ingenieur“ Dieter Döpfer, meist der Retter in der Not! Erfinder der Eurorack-Norm, wird heute oft „der deutsche Moog“ genannt! Bildkomposition Andreas Merz.

. Eines Tages war es soweit: In die Computer ließen sich Toninformationen und Rhythmen einprogrammieren, und die angeschlossenen Synthesizer gaben die einprogrammierten Songs perfekt wieder. Das heißt, meist, aber leider nicht immer, denn das System war komplex und äußerst störanfällig. Ein kleiner Fehler beim Aufbau oder ein gebrochenes Kabel in den 64poligen Verbindungskabeln, die die Elektronikschränke wie Nervenbahnen durchzogen, genügte, und alles kam zum Stillstand.

Bild: Richard Aicher, Tour 1982

Daß das ganze System überhaupt ab und zu funktionierte, war sowieso schon ein kleines Wunder und eigentlich nur der scharfen Elektronikspürnase unseres Technikers zu verdanken. Wir befanden uns damals mitten im Zeitalter der Analogsynthesizer. Analogspannungen gaben den Ton an, Impulse unterschiedlicher Art den Takt. Jeder Hersteller hatte sein eigenes System von tonhöhenbestimmenden Steuerspannungen und klangauslösenden Trigger- beziehungsweise Gate-Impulsen. Normalerweise war es absolut unmöglich, zwei Synthesizer verschiedener Hersteller einfach so zu verbinden; etwa um mit der Klaviatur des einen den Oszillator des zweiten zu spielen. Entweder waren Ihre Klaviaturen nach verschiedenen Verfahren konzipiert, das heißt abgeglichen, oder die Trigger-Impulse paßten nicht zusammen. Der Aufbau eines Musiksystems, bestehend aus mehreren Analogsynthesizern, Analogsequenzern und einem elektronischen Schlagzeug, verlangte vom Musiker viel technisches Verständnis, starke Nerven und nicht z.uletz.t einen dicken Geldbeutel. Kein Wunder, daß nicht viele bereit waren, sich auf dieses Abenteuer einzulassen. Rein synthetisch erzeugte Musik blieb deshalb damals Domäne einiger weniger. Der Rest der Keyboarder hatte einen Synthesizer, vielleicht zwei! In diesem Fall konnten sie dann auf zwei Klaviaturen gleichzeitig spielen, eine mit der linken Hand, die andere mit der rechten bearbeiten. So erzielte man etwas vollere Klänge und interessantere Soundkombinationen als mit einem einzelnen Synthesizer.

Einige wenige Fanatiker hatten noch ein elektronisches Schlagzeug im Equipment und die, die dann noch einen Sequenzer ihr eigen nannten und überdies in der Lage waren, Schlagzeug und Sequenzer in Gleichtakt zu bringen, konnte man an den Händen abzählen. Dieses Wunder funktionierte meist nur, wenn alle Geräte aus demselben Haus, das heißt vom selben Hersteller stammten.

Wie gesagt, hatte man Glück, besaß man zwei Synthesizer, deren Trigger- und Steuerspannungen demselben System gehorchten. Dann konnte man sie direkt koppeln und damit quasi die Zahl der parallel klingenden Oszillatoren vervielfachen. Spielte man nur auf der Klaviatur von Synthesizer Nummer 1, klang Synthesizer Nummer 2 automatisch parallel mit. Das ergab dann für die damaligen Soundgewohnheiten schon ganz interessante Schwebungsklänge. Man darf nicht vergessen, daß zu dieser Zeit Synthesizer meist nur monophon spielbar waren. Kleine Keyboard-Synthesizer besaßen normalerweise maximal drei Oszillatoren, und damit waren die live erzielbaren Möglichkeiten nicht eben gerade bombastisch, zumindest an heutigen Maßstäben gemessen.

Und dann kam der Tag, an dem die Synthesizer die Domäne der Polyphonie zu erobern begannen. Wer jetzt denkt, damit wären die Probleme vorbei gewesen, irrt gewaltig. Alles wurde nur noch komplizierter, denn nun besaßen Keyboards eigene Prozessoren. Und in diesen intelligenten Keyboards wurden die Tasteninformationen folglich nicht mehr analog, das heißt mit entsprechenden analogen Control-Voltages und Trigger-Impulsen an die Oszillatoren übermittelt, sondern mit den Methoden der neuen Digitaltechnik. Computerprogramme, in kleinen Mikrochips im inneren der Keyboards eingebrannt, bestimmten ab sofort die komplexen Abläufe in diesen Synthesizern. Die Sound einstellungen waren damit speicherbar und konnten schnell wieder aufgerufen werden. Außerdem waren die Klaviaturen nun in der Lage, mehrere Anschläge gleichzeitig zu verarbeiten. Man konnte polyphon spielen, zunächst vierstimmig, später acht- und sogar sechzehnstimmig, je nach Synthesizertyp und Bauan. Entsprechend waren die Synthesizer mit sehr viel mehr Oszillatoren, Filtern und Hüllkurvengeneratoren ausgerüstet, und ihre Sounds klangen wesentlich dichter und voller als die der älteren monophonen Kollegen.

Diese Vorteile hatten damals jedoch auch ihren Preis. Die Probleme, die sich einer Koppelung zweier oder mehrerer Synthesizer, beziehungsweise der Ansteuerung eines Synthesizers durch einen Sequenzer in den Weg stellten, waren nicht weniger, sondern im Gegenteil nun noch mehr geworden. Die meisten polyphonen Synthesizer nach digitalem Muster besaßen zunächst keine Schnittstellen mehr zur Außenwelt, und wenn, dann nur ganz firmenspezifische, meist sogar auf bestimmte Geräte zugeschnittene. Gleiches galt genauso uneingeschränkt für die jetzt ebenfalls prozessorgesteuenen Sequenzer und Drum-Machines. Sie arbeiteten mit unterschiedlichen Clocks und Triggern, die sich sowohl nach der Anzahl der je Takt abgegebenen Steuerimpulse wie auch nach deren Form und Spannungshöhe unterschieden. Das Dilemma war da! Der Fortschritt, den die moderne Digitaltechnik zunächst in die Welt der Synthesizer brachte, hatte seinen Preis: Die digitalen Synthesizer, Sequenz er und Drum-Machines waren noch schwieriger, oft überhaupt nicht mehr koppelbar. Die Vielfalt der Standards wuchs, die Geräte waren meist nur noch als einzelne Komponenten einsetzbar.
Selbstverständlich wurde diese Normenvielfalt von sämtlichen Herstellerfirmen kräftig geschürt. Man wollte ja möglichst seine Geräte verkaufen, die Musiker durch die Nichtkompatibilität zu Geräten anderer Hersteller an die eigene Produktlinie binden.
Und genau damals begannen wir mit Computern zu experimentieren. Es mußte doch möglich sein, auch aus digital gesteuerten Komponenten ein komplexes, als Einheit funktionierendes Musiksystem aufzubauen! Und es gelang! Ich wage jedoch heute nicht mehr daran zu denken, wieviele Nächte es gekostet hat, das optimale ‚Equipment zu planen, mit unserem Techniker immer wieder andere mögliche Steuerelektroniken auszutüfteln und auf ihre musikalische Verwenbarkeit hin zu testen, wieviele Kilometer Kabel

Weltklang – 1983 – Palmenhaus, Schloss Nymphenburg, München

Bild: Richard Aicher und Weltklang, live 1983. Zwei kleine Computer und viel Elektronik bestimmten die Szene.

wir in dieser Zeit in den wohnzimmerschrankgroßen, mit Elektronik vollgestopften Holzkästen verlegten, wieviele Verbindungen wir löteten -kurz wieviele Stunden die Schöpfung dieses Musikapparates kostete.
Immerhin, fast ohne es zu bemerken, quasi als Nebeneffekt, war ich mittlerweile vom Musiker zum Fachmann für Fragen des Computereinsatzes in der Musik geworden und recherchierte für einen Münchner Computerzeitschriftenverlag fleißig eine vierzehntägig erscheinende Rubrik zum Thema »Computer und Musik“. .
Ich werde den Tag nie vergessen, an dem ich in der Post eine Schrift mit dem Titel »The Musical Digital Interface“ fand. Ich überflog das Schreiben. Und, ehrlich gesagt, es erschien mir zunächst nicht mehr und nicht weniger interessant als viele Informationen, die so täglich über angeblich umwerfende Neuerungen zum Thema »Computer und Musik“ eingingen. Was das Schreiben auszeichnete: Absender war nicht eine der zahllosen Computerfirmen, sondern eine bekannte Synthesizerfirma.

Richard Aicher – 1986 – München, BMW Museum. Presseparty von Commodore Computer zum 1Millionsten verkauften Commodore 64 in Deutschland

Hätte damals jemand behauptet, diese hier neu angepriesene Technik würde in weniger als drei Jahren nicht nur mein Leben, sondern eine ganze Musikindustrie neu bestimmen, Arbeitsweise und Möglichkeiten unzähliger Musiker verändern und eine völlig neue Form der Aufnahmetechnik schaffen, ich hätte ihm keinen Glauben geschenkt. Und doch, kam es so: Diese neue Technik etablierte sich schneller als irgend jemand erwartet hatte und bildet heute einen unumstößlichen Standard. Midi hatte seinen Sieges zug begonnen.

München, Februar 1987