Probleme mit komplexen MIDI-Systemen – Artikel von Richard Aicher für Soundcheck 1986

VON KÜHNEN TRÄUMEN ZUR HARTEN PRAXIS EIN FAZIT

M.I.D.I.! Als ich von der Firma Roland vor etwa 3 1/2 Jahren eine Notiz über eine neue Möglichkeit, Computer und Keyboards zu koppeln, erhielt, fand ich das zwar höchst interessant, aber auch nicht mehr. Nicht in den kühnsten Träumen hätte ich mir damals gedacht, dass dieses System eines Tages, und vor allem in so kurzer Zeit, das gesamte Musikgeschehen total umkrempeln würde.

Instrumente ohne Midi-Anschluss sind heute nur noch schwierig absetzbar, auch wenn längst nicht jeder Musiker Midi tatsächlich einsetzt. Aber warum soll das Gerät, das man kauft, nicht dem modernsten Stand entsprechen? Auf dem Gebraucht- Gerätemarkt werden die Traumteile von einst verschleudert. Da taucht der Mini Moog, für den einst mehr als 6000 Mark auf den Tisch zu blättern waren, für 1200 Mark auf und selbst programmierbare, polyphone Synthesizer ohne Midi kosten mittlerweile nicht mehr viel mehr als 1000 Mark. Genügt ein Jupiter 4, so muss man oft nicht mal mehr 600 Mark auf den Verhandlungstisch legen.

Ein Großteil dieses rapiden Preisverfalles geht sicher auf das Konto Midi. Und sicher werden die Instrumente nur allzuoft zu Unrecht entwertet, denn der Sound der Teile hat sich durch Midi nicht geändert. Ein Mini Moog von einst klingt heute noch genauso bombastisch, und auch der Jupiter 4 hat seine interessanten Eigenheiten. Doch viele Keyboarder sind eben Technik-Freaks und spielen am liebsten mit modernstem Equipment. Trotzdem möchte ich jedem ans Herz legen, sich genau zu überlegen, ob es sich in seinem speziellen Fall auch tatsächlich lohnt, ein altes Teil herzugeben, und dafür ein wesentlich teureres, neues anzuschaffen – das dann eine Midi-Buchse hat. Sicher, Midi ist eine absolut fantastische Sache; und ich könnte mir mein eigenes Equipment nicht mehr ohne Vernetzung vorstellen. Doch nicht jeder benötigt das! Sehr viele Keyboarder sind mit ein oder zwei Keyboards vollauf zufrieden, und die spielen sie von Hand. Das Problem der Koppelung via Midi stellt sich bei ihnen erst gar nicht, ein Sequenzer wird nicht benötigt. Warum also nicht das Equipment behalten, wenn die Sounds o.k. sind? Sich tatsächlich für Midi entscheiden, erfordert dann auch Konsequenz. Sicher, man kann auch durch die bloße Koppelung von zwei Keyboards interessante neue Dimensionen erschließen, auch ein Keyboard in Verbindung mit Computer oder Sequenzer ist schon was. Aber so richtig interessant wird das System erst im Verbund von vielen Instrumenten, wozu dann leider mindestens ebenso viel Peripherie nötig wird. Und die kostet oft mehr Geld als die Instrumente selbst.

Probleme mit komplexen Systemen

Mit dem richtigen Equipment lässt sich jedoch heute bereits ein voll Computer- oder Sequenzer-gesteuertes Studio realisieren, das letztlich auch die SMPTE-synchrone Vertonung von Film oder Video mit bester Tonqualität ermöglicht. Und das unter Umständen sogar ohne Mehrspurmaschine, mit digitalem Mastering und Midi-gesteuertem Mix‘.

Doch bis dieses Studio steht, wird man einige graue Haare mehr und viele schlaflose Nächte hinter sich gebracht haben! Alles nicht weiter schlimm, denn der bis dahin ins Unermessliche gestiegene Kaffee- und Nikotinverbrauch lässt einen mittlerweile sowieso nicht mehr schlafen, und die grauen Haare bemerkt auch keiner, da man die Welt außerhalb der Studiowände sowieso nur noch kurz vor Ladenschluss beim Kauf neuer Zigaretten, einer neuen Megapackung Kaffee und der aktuellsten Literatur zum Thema Midi registriert.

Langer Rede kurzer Sinn: Die Probleme, die sich beim Aufbau eines reibungslos funktionierenden Systems ergeben, sind gewaltig! Selbst wenn man Tage und Nächte mit dem Lesen von Publikationen zum Thema verbracht hat, brav tagelang mit Bleistift und Papier diverse Möglichkeiten der Verkabelung durchgeknobelt hat, läuft dann in der Praxis doch nie alles perfekt, und in den wenigsten Fällen kommen nach dem ersten Aufbau genau die Daten, in genau der Weise, genau da so an, wie man sich das gedacht hat. Doch glücklicherweise waren die Zubehörfabrikanten auch nicht untätig und haben mittlerweile für so ziemlich jedes Problem, das nur irgendwie auftreten könnte, die passende Hardware oder Software- Lösung parat. Die dann natürlich wieder kostet, aber man ist ja bereit, für das System etwas auszugeben. Doch woher soll man wissen, was man eigentlich benötigt? Midi-Peripherie gibt es nicht in jedem Musikshop zum testen, geschweige denn an jedem Kiosk zu kaufen. Und vielleicht (das soll ja vorkommen) wurde auch gerade das Teil, das die Lösung im eigenen Equipment bedeuten würde, nie in einer Zeitschrift getestet, denn so spezielles Equipment ist oft nur für ganz bestimmte Konfigurationen interessant, die nur wenige Musiker besitzen und damit unter Umständen keinen gesonderten, ausführlichen Test rechtfertigen. Selbst wenn das Teil getestet wurde, kam vielleicht das eine Feature, das man selbst benötigt, im Test nicht eigens zur Sprache. Neben technischem Verständnis ist für Midi-Anwender mit aufwendigen Systemen deshalb ein nicht zu unterschätzender kriminalistischer Spürsinn, eben das gewisse Feeling für die Sache, nie von Nachteil. Wie gesagt, nur wenn es gilt, wirklich komplexe Systeme zu installieren, denn zwei Keyboards midimäßig richtig zusammenzustöpseln, oder Drum Pads an eine Drum- Maschine anzuschließen, das kann mittlerweile auch meine Oma. Nach einigen Monaten ist es dann soweit! Die gesamte Anlage funktioniert perfekt, die Verkabelung stimmt, ein Knopfdruck der erste eingespielte Song fetzt perfekt abgemischt aus den Speakern, keine Taste wird gedrückt, alles erledigt die Technik.

Der Teufel in der Leitung

Und dann hört man es doch! Dieselbe Stelle nochmal abgespielt. Klar, da stimmt etwas nicht. Im dritten Takt klingt es holprig. Die Drums setzen nicht richtig ein. Ein Delay? Ein Datenfehler? Spinnt ein Gerät? Ist ein Kabel defekt? In so hochkomplexen Daten-Systemen gibt es viele Fehlermöglichkeiten. Und wenn man Pech hat, kann man sie nicht mal eliminieren. Dann nämlich, wenn der Teufel bereits im System steckt. Und im Midi-System steckt ein ganz ausgefuchster! Meistens zeigt er sich nie. Das ist am besten. Manchmal verleidet er das System sofort, oft zeigt er sich erst, wenn das Equipment eine gewisse Komplexität erreicht hat, die Songs komplexer werden oder viel mit Midi-Drums gespielt wird.

Es geht um die serielle Datenübertragung. Sicher, jeder weiß, welche Vorteile sie hat, lange Kabel, wenig Leitungen, alles super für die Anwendung. Wenngleich die 180 Grad DIN-Midistecker nach wie vor schlichtweg eine Zumutung für jeden Musiker bedeuten und eigentlich meistens irgendwann Ärger machen. Entweder sind sie verbogen, leiern aus oder die Kabel brechen ab. Aber das steht auf einem anderen Blatt. Das Problem liegt in der seriellen Datenübertragung selbst, die von der Spezifikation 1.0 vorgeschrieben wird. Die Übertragung geschieht Bit für Bit, Wort für Wort, Begriff für Begriff. Die Übertragungsgeschwindigkeit wurde zwar immerhin auf 31.25 kBaud festgelegt, das ist zweimal schneller als die der in der Computerszene weithin verbreiteten RS 232 C Schnittstelle. Man stelle sich nun bitte kurz aber leb-‚ haft vor, welche Datenflut wandern muss, um, voll orchestriert, Beethovens Fünfte mit 16 verschiedenen Midi-Keyboards computergesteuert wiederzugeben. Ab einer gewissen Datenmenge treffen die Signale nicht mehr zur richtigen Zeit an den verschiedenen, angeschlossenen Instrumenten ein. Das Midi-Orchester spielt daneben. Als Midi entwickelt wurde, war dieser Fall undenkbar. Die billigsten Midi- Keyboards kosteten damals mehr als 3000 Mark. Niemand konnte sich fünf oder gar 16 davon leisten. Doch mittlerweile gibt es hervorragende Midi-Keyboards oder Expander in der Preislage ab 700 Mark und ein Ende des Preisrutsches ist nicht abzusehen. Außerdem werden immer mehr Geräte midikompatibel. Das Endziel ist bekannt: Das voll Computer-gesteuerte Midi-Studio. Die zu übertragende Datenflut wächst also immens. Die Grenzen der seriellen Datenüber- /tragung könnten bald erreicht sein! Sicher, man kann sich auch hier helfen, Daten vor-, zurück-, hin- und herschieben, aber das sind eben nur Notbehelfe.

Midi-Drone und Voice Memories

Noch schlimmer wird es, wenn Daten auf der langen Reise durch das Midi-Kabel verzerrt werden und dadurch verloren gehen. Das gibt dann das Trauma jedes Midi- Anwenders, den Midi-Drone. Gerade in älteren Keyboards wurden im Midi Thru- Schaltkreis oft noch relativ langsame Optokoppler eingesetzt, die die Datenbits bei Durchgang nicht unwesentlich verzerren. Schleift man das Signal durch viele Keyboards, bleibt dann halt von manchem Bit nicht mehr genügend über. Und wenn das ein Note Off war, hat man den Salat, sprich den Dauerton. Eine befriedigende Lösung dieser Probleme ist momentan nicht in Sicht. Hierzu wäre auf jeden Fall eine Änderung der Spezifikation nötig.

Manche Hersteller experimentieren mit erhöhten Übertragungsgeschwindigkeiten. Dies wäre vielleicht die unproblematischste Lösung. Sehr viel aufwendiger wäre eine Änderung der Spezifikation in Richtung paralleler Datenübertragung. Das hieße dann, sehr viel bereits bestehende Hardware umzuändern oder zumindest mit Interfaces dem parallelen Standard anzugleichen. Daten aus älteren 1.0 Instrumenten müssten dann erst eine wahre Wandlungsorgie durchlaufen, bis sie endlich irgendwo am Ziel wären.

Wie jeder Anwender weiß, gibt es noch genügend andere Probleme im System. Etwa die nicht ausreichende Normierung der Anzahl und Nummerierung, das heißt, besser: Strukturierung der Programmspeicherplätze von Keyboards. Spätestens hier macht sich nämlich bemerkbar, dass das schönste Midi-System nichts nützt, wenn bestimmte hardwaremäßige Gegebenheiten der Instrumente nicht genormt sind. Und hierzu zählen leider die Voice Memories. Wählt man am Masterkeyboard Programm 4, so erscheinen an den angeschlossenen Instrumenten alle anderen Programme, aber nicht Nr. 4. Und wenn das Keyboard, das man als Masterkeyboard einsetzt, weniger Voice Memories besitzt als ein angeschlossener Expander, dann kann man die restlichen Programme des Expanders vom Masterkeyboard aus gar nicht ansprechen. Und wenn ein angeschlossener Expander oder auch ein Effektgerät weniger Voice Memories besitzen als das Masterkeyboard, dann macht es nicht mehr sehr viel Sinn, die restlichen Programme des Masterkeyboards einzusetzen. Das Instrument mit der niedrigsten Zahl von Voice Memories bestimmt also die maximal zur Verfügung stehenden, korrekt einander zugeordneten System-Voice Memories innerhalb eines Midi-Systems, das ohne Homecomputer und ohne Midi-Control-Computer arbeitet. So wird man also auf bestimmte Marken gedrillt. Klar, verwendet man nur Instrumente eines Herstellers, funktioniert meist alles. Doch dies ist, vor allem für Keyboarder, kompletter Unsinn. Denn jeder Hersteller setzt heute andere Klangsynthese- Methoden ein. FM klingt anders als PD, PD klingt anders als additiv, und additiv klingt anders als subtraktiv synthetisierte Klänge. Gerade die Kombination von Keyboards mit unterschiedlichen Klangsynthese- Methoden macht aber das gewisse Etwas aus, bringt die wünschenswerte Klangvielfalt zu Tage.

Musiker im Computerdschungel

Und wie steht’s mit den Musikern selbst? Wie stehen sie den Möglichkeiten der Computersteuerung gegenüber? Sie klagen! Konnten sie sich einst voll der Musik widmen, hantieren sie heute gezwungenermaßen mit Computertastaturen, nicht bedienerfreundlicher Software, zu kleinen Arbeitsspeichern und zu langsamen Diskettenlaufwerken. Der Preis, selbst Songs in perfekter Qualität im Wohnzimmer produzieren zu können, ist hoch. Die eigentlich ehemals musikerfremde Arbeit nimmt immer größere Dimensionen an. Früher mussten Sounds lediglich programmiert werden. Heute genügen einfache Sounds oft nicht mehr, sie müssen gestackt werden, das heißt zwei, vier oder noch mehr Sounds werden übereinandergelegt und ergeben den Übersound. Midimäßig ein Leichtes. Aber es vergehen Stunden, bis man die optimale Soundkombination gefunden hat.

Die Folge: Die Archivierung im Studio wird immer komplexer; nicht dass nun Bänder geordnet werden müssen, heute sind es Daten. Hunderte von Disketten, selbstverständlich verschiedenster Formate, dazwischen ein Wust .von Tapes mit den Keyboard-Sounds. Wer da nicht Ordnung hält, ist nach einiger Zeit hoffnungslos verloren. Genau wie jemand, der aus 5000 verschiedenen DX-Sounds für einen Song den optimalen aussuchen will.

Trotzdem, das Midi-System lässt sich nicht mehr aufhalten. Und das ist auch gut so. Denn bei allen Nachteilen, die Vorteile überwiegen auf jeden Fall. Das Midi-Studio für Keyboarder ist mittlerweile keine Zukunftsvision mehr. Immer mehr Midi- Studios nehmen den Betrieb auf, und ein Tonstudio ohne gutes Midi-Equipment ist heute bereits veraltet. Doch wo viel Licht, da ist auch viel Schatten. So haben sich in London vor nun gut einem Jahr arbeitslose Studiomusiker in einem Verein „zur Verbannung des Computers aus den Tonstudios“ organisiert. „Der Computer macht uns arbeitslos“, singen sie im Chor. Er spiele nicht nur zu jeder Tages und Nachtzeit, sondern überdies exakter und liefere quasi als Abfallprodukt den perfekten Sound gleich mit. In Verbindung mit modernster Midi- und Sampling-Technik vertreibe er nicht nur die Musiker selbst, sondern den Tonmeister gleich mit. Ihr Protest richtet sich vor allem gegen Schlagzeugcomputer und solche Super-Systeme wie Fairlight und Synclavier.

Sicher ist die Angst etwas übertrieben. Natürliche Instrumente besitzen nach wie vor Klang- und Nuancierungsmöglichkeiten, die ein perfekter Musiker mit Spontaneität und Gefühl in Ausdruck verwandelt, von dem auch das beste Computermusiksystem nur träumen kann. Das wird sich im nächsten Jahrzehnt nicht ändern.

Feature von Richard Aicher, Dezember 1986